Heidelberger Episoden

Samstag, 13. September 2008

felicidad y tristeza


„Du siehst traurig aus.“ sagte ich und setzte mich zu ihr auf die Bank.

„Ja.“ Sie starrte auf den Neckar, ohne aufzublicken.

Eine defekte Warnleuchte blitzte am Straßenrand unregelmäßig gleißend auf, verlor sich nach einiger Entfernung in der umschlingenden Schwärze. Ich sah kurz ihre grünen, leeren Augen und ihr starres Gesicht im Lichtblitz, dann wieder ihre erloschene Silhouette.

Sie sagte nichts. Ich folgte ihrem Blick und stellte mir vor, wie ihre Augen vergebens den Fluss nach ihrer Antwort absuchten.

„Einfach so?“ fragte ich.

„Einfach so?“ flüsterte sie sich selbst zu.

Wieder ein Lichtblitz. Sie hatte die Hände in ihrem Schoß zusammengefaltet und drückte den Nagel des rechten Daumens in ihren Handrücken. Er war bereits mit Zeichen übersät, an denen sich die Haut dunkelrosa verfärbt hatte.

„Niemand sollte einfach so traurig sein.“ antwortete ich für sie.

„Und wenn doch?“

„Dann könnte er ebensogut einfach so glücklich sein.“

Sie antwortete nicht. Ihre gebannten Augen ließen nicht von ihrer ziellosen Suche ab.

„Dann macht es keinen Unterschied, ob ich einfach so traurig oder glücklich bin.“ sagte sie nach einer Weile.

„Nein. Aber es macht einen Unterschied ob du begründet oder grundlos traurig bist.“

„Aber grundlos kannst du alles sein. Das ist das Schöne daran.“

„Das Schreckliche. Wenn du grundlos glücklich bist, fehlt dem Glanz der Kern. Ohne Kern ist der Glanz aber hohl, unecht und wird dir mit der Zeit zusetzen.“

Ich hörte sie atmen, es war ein leichtes, schwaches Atmen, das sich nur schwer gegen die drückende Nacht behaupten konnte.

„Und wenn du keine Gründe hast?“

„Dann weißt du, dass es keine wahre Trauer und kein wahres Glück ist, sondern nur leeres, kaltes, gespieltes.“

„Ich soll mich demnach freuen, wenn ich weiß, wieso ich traurig bin?“

„Ja. Freuen über das eigene, echte Empfinden.“

„Und wenn ich grundlos traurig bin?“

„Über deine Dummheit lachen und es vergessen.“

Ihr wandernder Blick, der auf dem fließenden Neckar keinen Endpunkt finden konnte, richtete sich auf.

„Dann sollte ich jetzt wohl herzhaft lachen.“

„Womöglich. Aber denk dran, das Gleiche gilt für das Glück. Grundloses Glück ist ein Irrweg, ein Scheinziel, dem du nicht erliegen solltest.“

Ein dritter Lichtblitz. Sie lächelte mich flüchtig an, unsere Blicke trafen sich kurz, die Leere in ihren Augen war verschwunden. Sie ging, ohne etwas zu erwidern.
Ich blieb sitzen und wandte meinen Blick dem Neckar zu. Und suchte nach Gründen, die ich nicht kannte.

© m.s

Freitag, 4. Juli 2008

soñar y vivir

„Träumst du?“ Ich hatte sie nicht kommen sehen. Mein Blick war auf die sich spiegelnden Fassaden der Häuser auf dem Fluss gerichtet.

„Ja.“ sagte ich. Sie setzte sich auf die Holzbank.

„Von was?“

„Weiß ich nicht.“

„Von etwas Schönem?“

„Nein.“

„Von etwas Schlechtem?“

„Ich träume.“ Sie setzte zu einer Frage an, ließ ab und folgte meinem Blick.

„Darf ich mitträumen?“ fragte sie nach einer Weile.

„Du willst meine Träume mitträumen?“

„Ja.“

„Und was ist mit deinen Träumen?“

Gegen Mitternacht hatte es geregnet, das Holz der Bank war an einigen Stellen noch feucht. Ich spürte, wie die Nässe am Rücken durch meine Kleidung zog.

„Die können warten.“

„Wollen sie aber nicht.“

„Müssen sie aber.“

Sie rückte näher zu mir und legte ihre Hand auf die feuchte Holzplanke, zwischen uns beide.

„Dürfen sie aber nicht.“

„Wieso?“

„Weil sie nicht warten.“

„Dann verschwinden sie halt, andere werden nachrücken.“

„Andere, aber nicht deine.“

Wind. Die nassen Sträucher berührten meine Zehen. Ihre Hand hatte sich nicht bewegt.

„Träume sind Träume.“

„Deine Träume sind von dir für dich. Andere Träume sind von anderen für dich. Ich träume lieber meine Träume, nicht die der anderen.“

„Lebst du sie nicht gern?“

„Träume sollst du träumen, nicht leben.“

„Was magst du eher?“

„Träumen.“ - Wiegende Häuser, ein Ölgemälde auf schwarzer Leinwand. -

„Wieso?“

„Weil es nicht leben heißt.“ - Wie verharrende Motive in fließendem Schatten. -

„Und Leben heißt demnach nicht träumen?“ fragte sie.

„Nein. Leben heißt den Traum erkennen, ihn als solchen zu belassen und ihn als wirre Idee mit sich tragen. Leben heißt aus dem Träumen heraustreten, sie aber nicht vergessen.“

„Und wenn ich keine Träume habe?“

„Dann ist dein Leben leer.“

„Und wenn ich kein Leben habe?“

„Dann zeigen dir die Träume die unfassbare Vielfalt deines möglichen, verpatzten Lebens.“

Ich hatte das Gefühl, dass sie angestrengt versuchte meinem Blick zu folgen, sich ihrer in der Schwärze aber in eine andere Richtung verirrte.

„Der Traum als Spiegel der Wahrheit?“

„Als Spiegel der möglichen Wahrheit. Dein Leben ist die erste Wahrheit, dein Traum die zweite Wahrheit.“

Ein Regentropfen fiel auf meine Hand. Ich bewegte sie nicht, sondern ließ den Tropfen am Handrücken entlangrinnen.

„Es gibt verschiedene Wahrheiten?“

„Im Traum unendlich viele.“

„Und im Leben?“

„Nur eine, das ist das Schöne am Träumen. Und das Schreckliche. Du siehst, wie dein Leben hätte sein können, dann erwachst du und siehst, wie dein Leben ist.“

„Wieso ist das schlimm?“

„Weil das Verpatzte immer Nostalgie, Sehnsucht hervorruft.“

Ich sah im Augenwinkel, wie ein Regentropfen auf ihren Arm fiel und gemächlich in Schlangenlinien an der Innenseite des Arms entlangglitt und sich unter dem Handballen verlor. Sie hatte Gänsehaut.

„Und wieso ist Träumen schön?“

„Weil das Mögliche dich berauscht, dir Lebensmut schenkt. Es sagt dir, dass dein Leben nur eine Variante ist und du es ändern kannst. Es zeigt dir Wege auf, die im Licht des Lebens verdeckt sind und erst im Schatten der Träume sichtbar werden.

„Ich lebe lieber, da kann ich an den Blumen riechen, bei klarer Nacht in den Sternenhimmel schauen.“

„Im Traum kannst du die Blume sein, kannst durch den Sternenhimmel fliegen.“

Ihre Hand ruhte nach wie vor zwischen uns auf der Holzplanke. Der Wind wurde stärker. Ich vergrub meine Hände unter meinem Pullover.

„Das ist doch nicht das Mögliche! Das ist das Irrsinnige.“

„Im Traum ist alles Wahrheit. Erst wenn du ins Leben trittst, wird es zur Lüge. Weil dein Leben es dir verbietet, so zu sein.“

„Das Leben zerstört den Traum?“

„Ja. Ist zugleich auch sein Nährboden. Im Leben erfährst du, wie du bist. Erst mit dieser Erkenntnis kannst du träumen, wie du sein könntest.“

„Also ist nur Träumen schlecht?“

Weitere Regentropfen prasselten hernieder, sie sprengten die glatte Oberfläche des Flusses auf, der Wind fegte über das aufgewühlte Wasser, die gemalten Häuser zerbrachen in flackernde Scherben.

„Ja, du verlierst dich. Wenn du nur träumst, hast du nachher keine Wahrheit mehr. Du vergehst in der unendlichen Vielfalt der Wahrheiten. Das Leben zeigt dir, wie weit du gehen kannst.“

Sie zog ihre Hand wieder zu sich.

„Muss man träumen?“

„Ja, sonst wird dein Leben konturloses Licht.“

Ich fühlte ihren Blick auf mir. Ich schaute geradeaus.

„Muss man leben?“

„Ja, sonst wird dein Träumen unendlicher Schatten, in dem du dich verlierst.“

Sie suchte mich mit den Augen. Ich die schwindende Zuflucht der Nacht. Ein Donner über uns. Sie erhob sich und ging. Ich blickte ihr nicht nach, sondern wartete auf den ersten Blitz, der die zerbröckelnden Häuser für einen kurzen Moment erhellen würde.

© m.s

nachtflug

des menschen überfluss endet in der stille der nacht


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Zuletzt aktualisiert: 16. Sep, 23:49

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